Dieser Kurswechsel ist bemerkenswert: Um die Versorgung der Industrieländer mit Öl zu sichern, war die IEA 1974 im Zuge der Ölkrise gegründet worden. In ihrem aktuellen Bericht plädiert sie nun dafür, das Ende der fossilen Energiegewinnung einzuleiten. Mehr als 400 Maßnahmen, gestaffelt in Fünf-Jahres-Schritten, hat die Agentur definiert, mit denen die Staatengemeinschaft bis Mitte des Jahrhunderts klimaneutral werden könnte. So sollten etwa ab sofort keine Investitionsentscheidungen mehr für neue Kohlekraftwerke getroffen werden oder für das Erschließen neuer Kohleminen, Öl- und Erdgasfelder. 2025 käme das Aus für den Verkauf fossil betriebener Heizungen, 2035 der Verkaufsstopp für Neuwagen mit Verbrennungsmotor.
Zugleich müsse die Politik sofort und massiv auf alle bereits verfügbaren sauberen Technologien setzen. Der jährliche Zubau von Windkraft und Photovoltaik zum Beispiel sollte bis 2030 das Vierfache des Niveaus von 2020 erreichen und der Anteil von Elektroautos an der weltweit verkauften Menge von 5 auf 60 Prozent steigen. Erst danach werde Wasserstoff eine größere Rolle spielen oder auch Verfahren zur Abscheidung und Speicherung von CO2, die es parallel weiter zu erforschen gilt. Der Pfad auf dem Weg zur Klimaneutralität sei schmal, aber noch erreichbar, schreibt Fatih Birol, Direktor der IEA, auf Twitter – wenn Regierungen unverzüglich handelten.
Die Dringlichkeit, mit der die IEA hier für die globale Energiewende eintritt, hat selbst Experten überrascht. »Es ist eine große Wende«, kommentierte etwa Dave Jones, leitender Stromanalyst beim britischen Thinktank Ember, die Vorschläge aus Paris. Die Organisation habe fossile Energien bislang sehr positiv gesehen. »Für die fossile Brennstoffindustrie ist das ein schwerer Schlag.« Denn der Druck auf die großen Ölkonzerne dürfte dadurch weiter steigen: Zwar planen bereits viele von ihnen, stärker in Erneuerbare zu investieren, kein Konzern dürfte aber die Investitionen in neue Öl- oder Gasprojekte komplett zurückfahren wollen. Hier wird die Politik für die nötige Lenkungswirkung sorgen müssen, etwa durch einen angemessenen Preis für CO2.
»Wir müssen unsere Wirtschaft so umstrukturieren, dass es keine Anreize mehr gibt, in fossile Energien zu investieren«, rät auch der US-Klimaforscher Michael E. Mann in der Zeit. »Sonst haben wir keine Chance, den Ausstoß von Treibhausgasen innerhalb der nächsten zehn Jahre so zu reduzieren, wie wir es tun müssen.« Die Corona-Pandemie sei eine Lektion über unseren Platz auf diesem Planeten, über Verwundbarkeit und Nachhaltigkeit, darüber, wie tödlich Wissenschaftsfeindlichkeit sein könne, so Mann. »Ich bin optimistisch, dass wir die Gelegenheit für einen besseren Wiederaufbau der Wirtschaft nutzen.«