Beim Artenschutz in der EU genießt der Rotmilan hohe Priorität: 95 Prozent der weltweiten Population brüten hier, gut die Hälfte davon in Deutschland. Die daraus erwachsende Verantwortung für den Fortbestand der Art hat den rotbraunen Greifvogel schon zum Gegenstand so manches Gerichtsverfahrens gegen die Windkraft gemacht. Der Grund: Die sich drehenden Rotorblätter werden hierzulande gerne als Todesursache Nummer eins dargestellt. Doch stimmt das wirklich? Erste Zwischenergebnisse des groß angelegten EU-Artenschutzprojekts »Life Eurokite« zeichnen bisher ein anderes Bild.
Das grenzüberschreitende Projekt untersucht bereits seit Ende 2019, woran Rotmilane in Europa sterben, indem die Vögel mit GPS-Sendern ausgestattet werden. Rund 600 tote Tiere haben die Forschenden so bereits gefunden und untersucht – mit überraschendem Ergebnis. Die größte menschengemachte Gefahr für die Greifvögel ist demnach nicht die Windkraft, sondern Gift: Die Tiere verenden, weil sie zum Beispiel Ratten oder Mäuse fressen, die an Giftködern gestorben sind. Weitere Todesursachen sind Kollisionen im Straßenverkehr, etwa auf der Autobahn, Stromschläge an Elektroleitungen, illegale Abschüsse oder das Erfasstwerden von Zügen, etwa wenn überfahrenes Wild auf den Gleisen liegt und die Vögel beim Fressen selbst überrollt werden.
Auch Kollisionen mit Windrädern kommen vor, allerdings sei das nach bisherigem Datenstand »ein äußerst seltenes Ereignis«, so Dr. Rainer Raab, Technischer Manager des EU-Projekts, gegenüber dem ZDF-Magazin »Frontal«. In der Regel sind es junge und unerfahrene, geschwächte oder verletzte Tiere, die in die Rotoren geraten. »Die Regel ist, dass sich die Rotmilane 1.000 Stunden im Windpark bewegen können, ohne dagegen zu fliegen.« Auch im Brutgebiet stellen sie sich offenbar auf die Anlagen ein, wie eine erste Auswertung der Daten nahelegt. In die gleiche Richtung weist eine Untersuchung der Planungsgruppe Grün aus Oldenburg. Drei Jahre lang analysierten die Umweltplaner die Flugbewegungen verschiedener brütender Arten in einem bestehenden Windpark mithilfe moderner Laser-Entfernungsmesser. Dabei zeigte sich, dass der Rotmilan die sich drehenden Rotorblätter als Gefahr erkennt und umfliegt.
Gute Planung kann helfen, das Kollisionsrisiko weiter zu reduzieren. So können Länder und Kommunen über die Regionalplanung steuern, auf welchen Flächen Windkraft ausgebaut wird. Auf anderen können Artenhilfsprogramme die Bestandsentwicklung fördern. Um den regionalen Flickenteppich artenschutzrechtlicher Vorschriften zu vereinheitlichen, haben sich Wirtschafts- und Umweltministerium zudem im April auf bundesweite Standards zum naturverträglichen Ausbau der Windenergie geeinigt. Sie sollen im Bundesnaturschutzgesetz verankert werden und regeln, wo der Bau eines Windrads das Tötungsrisiko kollisionsgefährdeter Vögel signifikant erhöht. Grundlage für die Bewertung wird eine bundeseinheitliche Liste gefährdeter Brutvögel sein.
Als eine Art »Trenngesetzgebung« bezeichnet Wirtschaftsminister Robert Habeck die Kernidee des Vorhabens. So soll es in unmittelbarer Nähe zum Brutplatz artenspezifische Tabuzonen geben. Im Falle des Rotmilans sind hier aktuell 500 Meter rund um den Horst geplant, in denen der Bau von Windrädern auch künftig untersagt bleibt. Diese inneren Schutzzonen sind von einem äußeren Prüfbereich umgeben, in dem der Zustand der gesamten Art berücksichtigt wird: Ist deren bundesweiter Bestand durch den Bau von Anlagen im Prüfbereich nicht gefährdet, soll die Windenergie hier künftig Vorrang haben. Im Gegenzug zahlen Anlagenbetreiber, die eine solche Ausnahmegenehmigung erwirken, in ein Artenhilfsprogramm ein. Außerhalb dieser beiden Zonen sind keine Prüfungen mehr erforderlich. »Artenschutz und Windkraft sind in Zukunft Alliierte und nicht Gegner«, da ist sich Robert Habeck sicher. Beides bekomme seinen Raum.